ZIRKUSLIEBE

Gedankenverloren warf Bianca einen flüchtigen Blick durch den seitlichen Vorhang in die Manege.

Der schwere Samt fühlte sich heute kalt und trist an, denn Tony, der Gast-Akrobat, hatte ihr am Nachmittag seinen Abschied verkündet. Direktor Anello benötigte seine Dienste nicht mehr. Sein Zug würde den Bahnhof noch während der Abendvorstellung verlassen und Bianca war sich sicher, dass sie ihn nie wieder sehen würde. Zwei Artisten, die ein Nomadenleben führten, waren nicht dazu bestimmt, einander erneut zu begegnen.

Allein ihre erste Begegnung hatte bereits so schicksalhaft gewirkt, so vorherbestimmt, dass es ausgeschlossen war, erneut auf solch ein Wunder zu hoffen.

Bianca hatte sich Hals über Kopf in Tony verliebt. Liebschaften innerhalb der Zirkusfamilie waren eine Seltenheit und Beziehungen außerhalb der Zirkusfamilie waren von Beginn an dem Untergang geweiht. Zu unterschiedlich waren die Leben der Zirkusanten, zu wenig Verständnis erhielten sie von der sesshaften, verplanten Gesellschaft, die sie zwar bewunderten und sich ganze Abende verzaubern ließen, doch mit den Menschen hinter der Fassade außerhalb der Traumblase nichts anzufangen wussten.

Tony war einer von ihnen gewesen, er kannte den Zirkus, er kannte die Disziplin und harte Arbeit, die das Artistenleben einem abverlangte. Er verstand es, lebte und liebte es gleichermaßen.In ihren Gedanken Tony hinterhertrauernd kletterte Bianca elegant auf ihren geschmückten Schimmel und ließ sich die Zügel geben. Sie vollführte im leichten Trab Handstand, Salto, Sprünge und andere Figuren. Zum Abschluss wurde die Kanone gezündet und ein Konfettiregen sollte auf sie und ihren Schimmel herabregnen.

Doch irgendetwas an der Kanone sah anders aus als sonst. Das Abfeuern erklang dumpf und schwer. Scheinwerferlicht folgte dem Kanoneninhalt und kam auf dem Plateau der Seiltänzer zum Stillstand.

Eine zweite Kanone wurde abgefeuert, nun wurde Bianca von Rosen überschüttet. Die menschliche Kanonenkugel entsicherte ein großes Transparent unter dem Seil und sprang mit mehreren Salti auf eine Matte unter sich

Er nahm den Helm ab und ging auf Bianca zu, die bereits mit Tränen in den Augen vom Pferd gestiegen war.

“Du hast mich angelogen!” 

“Ich wollte, dass es eine Überraschung wird. Was sagst du?”

Bianca blickte unter euphorisiertem Applaus und Gejohle aus dem Publikum auf das Transparent, das Tony vorbereitet hatte.

“Ja! Natürlich will ich dich heiraten!”